Jüdisches Mädchenheim / Israelitischer Frauenverein

Im 19. Jahrhundert entstanden in Deutschland insgesamt sehr viele Vereine. Infolge der jüdischen Emanzipation seit 1812 kamen viele jüdische Vereine hinzu. Der Israelitische Frauenverein in Potsdam war einer davon, den 1851 siebenunddreißig jüdische Frauen gründeten. Denn Frauen hatten nicht die gleichen Rechte wie Männer. Sie waren in der Familie für die Erziehung der Kinder zuständig, für die Präsentation eines bürgerlichen Haushaltes und zugleich für die Aufrechterhaltung jüdischer Traditionen.

Die Frauen betätigten sich zuerst im sozialen Bereich, der Wohltätigkeit. Sie halfen bei der Pflege der weiblichen Kranken und nähten Gewänder für verstorbene Frauen. Bald unterstützten sie auch Hinterbliebene und Bedürftige. Für die Synagoge fertigten sie unter anderem Altarvorhänge. Schnell gehörten jedoch auch politische und gesellschaftliche Themen, wie der Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu ihrem Interesse. Zu dieser Zeit durften Frauen weder wählen, noch ohne männliche Begleitung jegliche Veranstaltungen besuchen oder sich in irgendeiner Art öffentlich beschäftigen. Deshalb war der Verein die einzige Möglichkeit für sie, sich unabhängig von ihren Männern zu engagieren.

Der Potsdamer Frauenverein war recht klein. 1910 gehörten ihm 108 Mitglieder an, alle davon Frauen. Das war knapp ein Viertel der jüdischen Gemeinde, die ungefähr 477 Mitglieder umfasste. Zum Zeitpunkt der Einweihung der neuen Synagoge am heutigen Platz der Einheit, 1903, zählte der Potsdamer Verein noch 99 Mitglieder. Als Vergleich: In größeren Städten, wie Stettin mit ca. 3000 Juden hatte der ansässige Frauenverein rund 600 Mitglieder.

Seit 1906 leitete Anna Zielenziger den Potsdamer Israelitischen Frauenverein. 1888 hatte sie in die Familie eingeheiratet. Da es in dieser Familie gute Tradition war, sich gesellschaftlich zu engagieren, trat sie gleich anderen weiblichen Familienmitgliedern dem Frauenverein bei. Sie brachte eine gute Schulausbildung mit, die sie durch ihren Vater Immanuel Landsberger, einem sehr angesehener Mann in Glogau (heute in Polen), erhalten hatte.

In der Zeit der Leitung durch Anna Zielenziger erreichte der Verein viel, zum Beispiel die Finanzierung von Stipendien, was er vermutlich 1908 zu ersten Mal machte. Das Geld bekam er durch Sparkästen, die die Frauen anlässlich ihres 50-jährigen Vereins-Jubiläums einführten. Diese Form der Spendensammlung nutzten sie in der Folgezeit stets bei besonderen Ereignissen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder Jubiläen. 1902 standen dem Frauenverein durch eine Förderung der Potsdamer Jüdischen Gemeinde 1.100 Mark zur Verfügung, 1910 sogar schon rund 2.270 Mark. Mit diesen Geldern unterstützte er bedürftige Frauen und andere Gemeindemitglieder.

Dreieinhalb Jahre später begann der Erste Weltkrieg. Der Verein arbeitete nun auch mit nichtjüdischen Vereinen wie dem Nationalen Frauendienst oder dem Roten Kreuz zusammen. Nach dem Krieg feierten die jüdischen Frauen ihr 75-Jähriges Vereins-Jubiläum im Hotel „Zum Einsiedler“ in der Potsdamer Schlossstraße, wo Anna Zielenziger die Festrede hielt. Diesen Anlass nutzten sie erneut, um Spenden für den Verein zu sammeln.

Im März 1929 eröffnete in der heutigen Berliner Straße 90 das jüdische Mädchenheim. Die ersten Bewohnerinnen kamen aus Berlin-Pankow, weil das dortige Gebäude für andere Zwecke genutzt werden sollte. Das Potsdamer Heim bot Mädchen und jungen Frauen eine hauswirtschaftliche Ausbildung. Es erfüllte damit zwar das klassische Bild der Frau, das der Israelitische Frauenverein eigentlich ändern wollte. Aber die Mädchen erhielten auf diese Weise die Möglichkeit, finanziell unabhängig von ihrer Familie zu sein.

Schon wenige Monate nachdem Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers antrat, musste das Mädchenheim schließen. Bereits am 12. Juli 1933 eröffnet dort der Reichsjugendführer Baldur von Schirach die Reichsführerschule der Hitler-Jugend. Als 1938 Juden von der Winterhilfe ausgeschlossen wurden, half der Israelitische Frauenverein Potsdams vielen Mädchen, da jüdische Familien noch immer die Bildung der Jungen vorzogen. Der Verein half auch Mädchen bei der Emigration nach Palästina.

In Folge der Pogromnacht vom 9. November 1938 löste sich der Israelitische Frauenverein Potsdams auf. Nach dem Tod ihres Ehemannes Julius wurde Anna Zielenziger unter Druck gesetzt, so schnell wie möglich auszureisen. Sie entschied sich, zu ihrem Sohn Kurt in die Niederlande zu gehen. Kurze Zeit nach ihrer Ankunft wurde ihr aber die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, weswegen sie keinen Zugriff mehr auf ihr letztes verbliebenes Geld hatte. Anna Zielenziger starb an Krebs im polizeilichen Durchgangslager Westerbork am 2. November 1943.

Der im Jahresbericht von 1911 geäußerte Wunsch der Vorsitzendenden Israelitischen Frauenvereins in Potsdam, Anna Zielenziger, Bertha Lehmann, Hermine Brauer und Ernestine Philippsborn, „Möge der Frauenverein zur Freude aller, die an seinen edlen Bestrebungen Anteil nehmen, wachsen, blühen und gedeihen in alle Zukunft!“ (1) hatte sich nicht erfüllt.

Literatur:

(1) Jeanette Toussaint: „Möge der Frauenverein blühen und gedeihen in alle Zukunft!“. Der Israelitische Frauenverein Potsdam und dessen Vorsitzende Anna Zielenziger, in: Elke-Vera Kotowski (Hrsg.): Salondamen und Frauenzimmer. Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten, Berlin / München / Boston 2016, S. 59f.

Autorin und Beitragsfoto: Anna Rissmann